Hans-Jürgen Lange: Otto Rahn oder was ist historische Wahrheit?
Der Volksmund sagt: "Lügen haben kurze Beine", schön wäre es, aber in Wirklichkeit wird Geschichte auch von unsterblichen "Zeitungsenten" beherrscht.
Was das mit Otto Rahn zu tun hat? Wie ich meine, eine ganze Menge.
Denn was bei Zeitungen nicht ins Gewicht fällt, wie heißt es doch so schön - "nichts ist älter als die Zeitung von gestern" - hat in Büchern ein langes Leben. Drei Beispiele aus der neueren Literatur können diese verschiedenen Formen von Scheintatsachen belegen.
Fangen wir mit einer Belanglosigkeit an. Nach dem Besuch der großen Freimaurer-Austellung in Weimar, schenkte mir meine Freundin das Buch von Monika Hauf: "Der Mythos der Templer", das es vor der Kasse zu kaufen gab. Abgesehen davon, dass sich die Verbindung Templer - Freimaurer auch in diesem Werke hartnäckig hält, hatte ich nicht damit gerechnet, dort auf Otto Rahn zu stoßen. In dem Kapitel "Esoterisch-okkultistische Cliquen" schreibt die Autorin, nachdem sie Lanz von Liebenfels, Karl Haushofer und Rudolf von Sebottendorf erwähnt hatte: "Wer unter diesen theoretischen Wegbereitern der Nationalsozialisten Täter war und wer mißbraucht wurde, lassen wir dahingestellt. Eine deutsche Gruppe unter Otto Rahn interessierte sich sehr für den Montségur. Rahn starb beziehungsweise verschwand später unter merkwürdigen Umständen."
Wo hatte die Frau das nur her? Da die Erstauflage bereits 1995 erschienen war, ahne ich es, sie hatte bei Armin Mohler: "Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932" nachgeschaut. Nur, was steht in dem zweibändigen bibliographischen Nachschlagewerk wirklich?
Im Hauptband: "Otto Rahn geb. 18.2.1904 Michelstadt (Odenwald) - 1938 in den bayrischen Alpen umgekommen (offizielle Version: Unglücksfall). Auch er paßt nicht in die üblichen Vorstellungen von 'völkisch'. Man kann ihn als Außenseiter neben die deutschgläubige Bewegung stellen; er sieht sich in einer Überlieferung von (durch das Christentum unterdrückten) Ketzern stehen, unter denen es ihm vor allem um die Katharer (als versprengte Reste der Goten) und den Berg Montségur (als wirklicher Gralsberg) in den französischen Pyrenäen geht. Anscheinend Anreger geheimbundähnlicher Gruppen. Angeblich zu Selbstmord genötigt."
Im Österreichischen Polizeiprotokoll heißt es: Tag und Stunde des Todes sind unbekannt, mutmaßlich in der Nacht vom 13. bis 14. März 1939. - Am 18.5. 1939 erschien eine SS-Todesanzeige mit folgenden Text: "Bei einem Schneesturm in den Bergen kam im März d.J. der SS-Obersturmführer Otto Rahn auf tragische Weise ums Leben. Wir betrauern in diesem toten Kameraden einen anständigen SS-Mann und den Schöpfer ausgezeichneter, geschichtlich-wissenschaftlicher Werke. Der Chef des Pers.-Stabes RF SS Wolff SS-Gruppenführer."
Nun könnte man meinen, die Autorin hätte vielleicht doch noch andere Quellen benutzt. Ich halte das für unwahrscheinlich, weil die erwähnten "geheimbundähnlichen Gruppen" nur dort auftauchen. Womit Rahns Kontakt zu der französischen "Franternité des Polaires", kurz "Les Polaires", gemeint ist, der Rahns Gönnerin, die Gräfin Miryanne de Pujol-Murat, angehörte. Etwas, das Armin Mohler damals noch nicht wissen konnte. Im Ergänzungsband korrigiert er sich, was Rahns Todesdatum und Ort angeht, und er verweist auf die mysteriösen Gerüchte, die in der französischen Literatur auftauchen, wie Christian Bernadacs Sensationsgeschichte um das Weiterleben von Otto Rahn als Botschafter Rudolf Rahn. Dazu hatte Mohler am 12. Mai 1979 in der Zeitung "Die Welt" einen Artikel veröffentlicht, unter der Überschrift: "Der doppelte Rahn und sein heiliger Gral. Wie ein toter deutscher Schriftsteller als Botschafter weiterlebte - Fahrlässige 'Zeitgeschichte' aus Frankreich."
Gewiss nur Kleinigkeiten, verständlich, wenn man solche Kritik als Korinthenkackerei abtut. Ich gebe aber zu bedenken, dass solche Kleinigkeiten Einblicke in prinzipielle Einstellungen geben. Interessanterweise hat Rahn dort eigentlich nichts zu suchen, er gibt nur ein geheimnisvolles dekoratives Element ab, um die hypothetische Gedankenkette: Templer-Freimaurer zu Okkultgruppen und Nationalsozialisten weiterzuführen.
Aber es kommt noch besser. Das zweite Beispiel liefert ein Buch, das 2003 erschien: "Die Entdeckung des Heiligen Grals" von Michael Hesemann. Ich möchte mit etwas beginnen, was zeigt, wie herrlich sich ein Stoff einfärben lässt. Der Autor schreibt über Otto Rahn: "Einerseits ein Träumer mit humanistischer Bildung, der die Geschichte nicht mit den Augen des Forschers, sondern des Romantikers sah; andererseits ein skrupelloser Opportunist, der, ständig in Geldnot und stets hoch verschuldet, den Pakt mit dem Teufel nicht scheute, um endlich jemand zu sein. Und der schließlich an diesem faustischen Geschäft, der Lüge, die er leben musste, zerbrach und in den Freitod getrieben wurde. Kein Wunder, dass die Faszination an diesem Menschen, der sich selber verraten musste, um Luzifer zu dienen, noch heute anhält."
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